W. Lisner u.a. (Hrsg.): Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg

Cover
Titel
Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg. Erfahrungen und Praktiken in Deutschland und im besetzten Europa 1939–1945


Herausgeber
Lisner, Wiebke; Hürter, Johannes; Rauh, Cornelia; Seegers, Lu
Reihe
Das Private im Nationalsozialismus
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lukas Schretter, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Zweigstelle Wien

Die politisch oder militärisch herbeigeführte Trennung und Zerstörung von Familien war eine kollektive und allgegenwärtige Erfahrung im Zweiten Weltkrieg. Dieser Sammelband zeigt anschaulich, dass sie zudem eine kalkulierte Begleiterscheinung der deutschen Kriegsführung sowie ein zentraler Bestandteil der NS-Besatzungs-, Rassen- und Biopolitik war. In den Beiträgen wird differenziert analysiert, wie Familien in der deutschen Kriegsgesellschaft und in europäischen Ländern unter deutscher Besatzung die Trennung erlebten und verarbeiteten. Die Beiträge geben zum einen Aufschluss darüber, wie sich „rassisch“ privilegierte Familien in das politische System des Nationalsozialismus einschrieben und systemstabilisierend wirkten. Zum anderen zeigen sie die Praktiken, Strategien und Handlungsspielräume von verfolgten und ausgegrenzten Familien vor und nach einer (drohenden) Familientrennung.1 Der Sammelband knüpft an Forschungen zu Privatheit im Nationalsozialismus an, durchgeführt am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin. Er erschließt ein neues Forschungsfeld: Die Erfahrungen und Auswirkungen von Familientrennungen wurden von der historischen Forschung zum Zweiten Weltkrieg bislang wenig berücksichtigt.

Der erste Abschnitt enthält themenübergreifende Aspekte zur Familie im nationalsozialistischen Krieg, die zum Teil in den Beiträgen des zweiten und dritten Abschnitts aufgegriffen werden.

Tatjana Tönsmeyer zeigt, dass Familientrennungen und -zerstörungen in der Sozial- und Emotionsgeschichte der europäischen Besatzungsgesellschaften einen zentralen Platz einnehmen. Aufgrund kriegsbedingter Einberufung, Flucht, Deportation, Verfolgung und Vertreibung bestanden die Besatzungsgesellschaften häufig aus „Rumpf- oder Haushaltsfamilien“ mit weiblichen Haushaltsvorständen. Trennungen waren vor allem ein Charakteristikum jüdischer Familien: Als „rassisch“ Verfolgte und Angehörige einer Besatzungsgesellschaft waren sie besonderer Entrechtung und Verfolgung ausgesetzt. Die Trennung von der Herkunftsfamilie wurde sogar zur Überlebensstrategie, als das Zusammenleben einer jüdischen Familie zur seltenen Ausnahme wurde.

Demgegenüber argumentiert Isabel Heinemann anhand von Familientrennungen und -gründungen im Kontext der Zwangsumsiedlungspolitik in den eroberten Gebieten Polens, dass die Familie „als ‚Relais‘, als zentrale Ordnungskategorie des Sozialen [wirkte], über welche reguliert wurde, wer auf welche Weise in der Gesellschaft partizipieren durfte“ (S. 57 f.). So wurden einerseits Familien vollständig zum Arbeitseinsatz vor Ort gezwungen, ins „Altreich“ entsandt oder ins Generalgouvernement deportiert, andererseits für die „Wiedereindeutschung“ ausgewählte Familien nach den Erfordernissen des Arbeitskräfteeinsatzes aufgelöst. Ein Beispiel für die Zerstörung und Neugründung von Familien im Dienste der nationalsozialistischen Rassenpolitik ist die Zwangsgermanisierung und Adoption nicht deutscher Kinder.

Der zweite Abschnitt ist den nicht verfolgten Familien in der deutschen Kriegsgesellschaft gewidmet. Im Fokus der meisten Beiträge stehen Familientrennungen aufgrund der Einberufung von Männern zum Kriegsdienst.

Nicht verfolgte Familien der deutschen Kriegsgesellschaft knüpften hohe Erwartungen an das seltene Wiedersehen während des „Fronturlaubs“. Er diente unter anderem dazu, der Entfremdung in Ehen entgegenzuwirken. Das NS-Regime instrumentalisierte mittels Propaganda die Heimaufenthalte der Soldaten, um deren Moral zu stärken und den Familien vorübergehend eine zivile „Normalität“ zu suggerieren. Je prekärer die militärische Lage und je seltener der „Fronturlaub“ wurde und je häufiger die Angehörigen der Soldaten ihr Leben durch alliierte Luftangriffe bedroht sahen, desto mehr geriet die Familie als kleinste soziale Einheit in den Fokus staatlicher Zugriffe: „Indem individuelle Enttäuschungen die kollektive Einsatzbereitschaft bedrohten, wurde häusliche Harmonie zur Staatsräson und das Private politisch“ (S. 85), schreibt Christian Packheiser. Zudem war der „Fronturlaub“ eine bevölkerungspolitische Maßnahme, um die Geburtenrate der „Volksgemeinschaft“ während des Krieges stabil zu halten – das NS-Regime erwartete von der „rassisch“ erwünschten Familie, dass sie während des Heimaturlaubs ihre Funktion als Fortpflanzungsgemeinschaft erfüllte. Katharina Piros mikrohistorische Analyse der Feldpostkorrespondenz eines Ehepaares zeigt, inwieweit die Trennungssituation und gesellschaftlich-normative Vorstellungen die Familienplanung beeinflussten.

Der Scheidung als die letzte Konsequenz, wenn sich Unstimmigkeiten zwischen Paaren häuften, nimmt sich ein Beitrag an. Die Scheidung nach dem „Zerrüttungsprinzip“, die vor allem scheidungswillige Männer für sich nutzen konnten, war durch die Reform des Ehe- und Scheidungsrechts im Jahr 1938 ermöglicht worden. Annemone Christians stellt aber fest, dass Ehen in der Folge nicht häufiger aufgelöst wurden als in Friedenszeiten. Verfahrensbeispiele aus der Verhandlungspraxis des Landgerichts München zeigen jedoch, dass kriegsbedingte Trennungen im Verlaufe des Krieges zunehmend in der Scheidungspraxis sichtbar werden: „Die Abwesenheit des Ehemannes konnte die Missstände in einer Partnerschaft zusehends verschärfen – Dissens und Entfremdung kumulierten während der seltenen Wiedersehen im Fronturlaub.“ (S. 161) Wie Paare der zunehmenden Entfremdung durch die Inanspruchnahme von Beratungsangeboten entgegenzuwirken versuchten, geht hingegen aus den zeitgenössischen Texten und Korrespondenzen von Walther von Hollander hervor, einem bekannten Schriftsteller und Kolumnisten für Ehe- und Familienberatung. Lu Seegers weist darauf hin, dass es eine persönlich entlastende und systemstabilisierende Strategie im Umgang mit den Zumutungen des Krieges war, wenn von Hollander auf die zwischenmenschlichen Probleme aufgrund kriegsbedingter Trennungen von Eheleuten zwar hinwies, nicht aber auf die politische Dimension. Diese Beschränkung auf allgemein menschliche Fragen war wohl der Grund dafür, dass von Hollander seine Beratertätigkeit nach der NS-Zeit nahtlos fortsetzen konnte.

Unter den Bedingungen kriegsbedingter Familientrennungen entwickelten Familien Kommunikationsstrategien. Der Beitrag von Kathrin Kiefer und Markus Raasch gibt Einblick in die Lebenswelten deutscher Soldatenfamilien aus der Perspektive von Kindern. Er zeigt, dass Geschwisterbeziehungen für das emotionale Überleben der getrennten Familien besonders relevant waren. Geschwister bemühten sich um ein funktionierendes Familienleben; die älteren Kinder wurden in die Verantwortung genommen. Zu den vielfältigen Erfahrungen von Kindern gehörte auch, dass Geschlechtergrenzen im Laufe des Krieges immer mehr verschwammen.

Ein weiterer Beitrag widmet sich der Familientrennung während der Umsiedlungsmaßnahmen von Deutschbalten und Wolhyniendeutschen in das Reichsgebiet und in die eingegliederten westpolnischen Gebieten 1939/40. Wiebke Lisner zeigt, dass Wolhyniendeutsche, die im Gegensatz zu den bürgerlich geprägten Deutschbalten oft einer bäuerlichen Schicht angehörten, begrenzte Möglichkeiten hatten, ihre Umsiedlung selbstbestimmt zu organisieren oder Trennungen zu verhindern. Die Familientrennung wurde von den Betroffenen zwar dramatisch wahrgenommen, war aber zeitlich begrenzt – im Gegensatz dazu war die Zerstörung von polnischen und vor allem jüdischen Familien, die als „rassisch“, „volkstumspolitisch“ und „erbgesundheitlich“ unerwünscht klassifiziert wurden, vom NS-Regime beabsichtigt.

Der dritte Abschnitt des Bandes thematisiert Handlungsoptionen und Praktiken nichtjüdischer Familien unter deutscher Besatzung, insbesondere in Osteuropa, und jüdischer Familien im Holocaust. Die Beiträge greifen die einleitenden Überlegungen zur Familientrennung und -zerstörung im nationalsozialistischen Krieg exemplarisch auf. Trotz der Breite der Fallstudien haben sie somit einen gemeinsamen analytischen Kern.

Marcel Brüntrup untersucht die Zwangstrennung osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder sowie die Familienzusammenführung von Zwangsarbeiter:innen. Ab 1943 wurden schwangere Zwangsarbeiterinnen nicht mehr in ihre Heimatländer zurückgebracht, um eine „rassische Unterwanderung“ der „Volksgemeinschaft“ zu verhindern, sondern konnten im Reich entbinden, um schnellstmöglich wieder für den Arbeitseinsatz verfügbar zu sein. Schwangerschaftsabbrüche, die bei deutschen Frauen streng geahndet wurden, wurden gefördert. Vermeintlich „gutrassige“ Kinder sollten hingegen „germanisiert“ werden. In der Annahme, dass im Familienverbund bessere Arbeit geleistet würde, wurden schließlich auch die Familien der Zwangsarbeiter:innen nicht mehr getrennt; im Widerspruch zu den NS-Maßnahmen gegen die Bildung „unerwünschter“ Familien wurden sogar Familienzusammenführungen arrangiert. Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder sowie ganze Familien waren also, wie Brüntrup argumentiert, „Gegenstand von Aushandlungsprozessen an der Schnittstelle zwischen bevölkerungs- und rassenpolitischen Zielen sowie kriegswirtschaftlichen Anforderungen, in denen über Zusammenführung oder Trennung von Angehörigen, über Duldung oder Zerstörung des Familienverbandes entschieden wurde“ (S. 278).

Die Kommunikation getrennter jüdischer Familien beiderseits der sowjetischen Demarkationslinie zwischen 1939 und 1941 beschreibt Olga Radschenko. Nachdem der deutsche Angriff auf Polen eine Fluchtbewegung von hauptsächlich jüdischen Männern in das zunächst unbesetzte und dann sowjetisch besetzte Ostpolen ausgelöst hatte und Tausende von jüdischen Flüchtlingen schließlich die „grüne Grenze“ überquerten, versuchten viele Familien, eine Familienzusammenführung zu erreichen. Die Korrespondenz per deutscher und sowjetischer Post und illegal mit Hilfe von sogenannten Grenzgänger:innen vermittelte den Familien Emotionalität und Stabilität. Auch Lebensmittellieferungen sicherten zumindest vorübergehend das Überleben der im deutsch besetzten Polen zurückgebliebenen Familienangehörigen. Carlos Alberto Haas untersucht in seinem Beitrag, wie jüdische Familien den Moment ihrer Trennung in den Ghettos in Polen interpretierten. Er konzentriert sich auf die Vorstellungen von Familie und auf die Rollenbilder in der jüdischen Bevölkerung Ostmittel- und Osteuropas vor 1939 und zeigt, wie Familien ihren Verlust im Ghetto in Erinnerung an eine bessere Vergangenheit und mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft wahrnahmen.

Der letzte Beitrag widmet sich Familientrennungen und Neukonfigurationen von Familien im belarussischen Raum. Die Institution Familie als kleinste soziale Einheit war vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion dem sozialistischen Kollektiv untergeordnet. Nach 1941 waren Familientrennungen und -auflösungen jedoch ubiquitär. Zugleich entstanden neue temporäre Zweckgemeinschaften und „Ersatzfamilien“. Sie wurden durch das Familiendekret von 1944 – das die sowjetische Familienpolitik weit über das Kriegsende hinaus prägte – angeregt und teilweise legitimiert. Als Quellengrundlage für diese Untersuchung von „Familien auf Zeit“ (S. 339) dienen Yuliya von Saal staatliche Akten und biografische Überlieferungen, unter anderem von Kindern und jüdischen Überlebenden.

Die unterschiedlichen Facetten des biopolitischen NS-Machtanspruchs auf Familien bilden die kohärente Klammer um die thematisch breit gefächerten Beiträge dieses Sammelbandes, ohne jedoch vermeintliche Gemeinsamkeiten familiärer Erfahrungen und Praktiken überzubetonen. Obwohl einige der im Sammelband vorgestellten Forschungen und Überlegungen von einzelnen Autor:innen bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden, bietet er neue Erkenntnisse zu Familientrennungen im Zweiten Weltkrieg. Dem Sammelband ist eine breite Rezeption zu wünschen, regt er doch nicht zuletzt aufgrund der zugrundeliegenden Quellenvielfalt zu weiteren Forschungen an: zu den Definitionen, Funktionen und Aufgaben von Familie im Krieg und danach, zur Ein- und Ausgrenzung aus der vom NS-Regime propagierten „Volksgemeinschaft“ und zum Alltag von jüdischen sowie nicht-jüdischen Familien unter deutscher Besatzung.

Anmerkung:
1 Grundlage des Sammelbandes ist ein Workshop des Jahres 2019. Siehe den Tagungsbericht von Jonathan Voges: Kriegstrennungen im Zweiten Weltkrieg – Familienzerstörung zwischen „Kollateralschaden“ und Biopolitik, in: H-Soz-Kult, 20.09.2019, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127021 (24.09.2023).